„Mein Vater lag tot auf dem Grund des Brunnens. Das ist ein guter Anfang. Für ein Märchen. Denn anständige Märchen beginnen stets grausam.“
Für die eine Fraktion, jene nämlich, die ihren Vater abgöttisch lieben, ist Sylvia Wages Plott DAS Horrorszenario schlechthin.
Für die Anderen ist es ein längst überfälliger Willkommensgruß, den Vater am Grund eines Brunnens leiden, betteln und dahinsiechen zu lassen.
Da drängen sich mir doch glatt folgende Fragen auf:
„Wo kommt dieser tiefe Graben her?“
„Wer hat den „armen“ Kerl dorthin befördert?“
„Warum musste er sein Dasein im finsteren Kellerloch fristen?“
„Was hat er verdammt nochmal verbrochen, um dort unten zu landen?“
„Wem kann man in diesem verschachtelten Kammerspiel überhaupt trauen?“
Zu meinem Bedauern, kann ich euch des Rätsels Lösung leider nicht näher bringen, ohne gehörig zu spoilern, doch ich kann euch verraten, ob das Romandebüt von Sylvia Wage den Blogbuster-Preis 2020 zurecht in die Tasche gesteckt hat, oder ob man eventuell einer kleinen Mogelpackung aufsitzt?
Eines scheint glasklar zu sein: Der Ursprung des Bösen lässt sich - wie immer - auf die eigenen verkorkste Kindheit zurückführen. Die Boshaftigkeit wird dem Säugling nicht etwa in die Wiege gelegt, sondern von den kaputten Vorbildern des eigenen Elternhauses mit schleichender Langatmigkeit antrainiert.
Genau DAS sollte die zentrale Botschaft von „GRUND“ sein, die Sylvia Wege mit ihrem völlig eigenen, unkonventionellem, durch und durch lakonischem Stil zu transportieren versucht.
Sie hat sich für dieses Vorhaben nicht nur ein hervorragendes Setting ausgesucht und lässt harmonisch komponierte (und dennoch gestörte) Charakterbilder aufeinander prallen, sie hat es zudem geschafft, eine rundum schlüssige, wirklich unterhaltsame Geschichte auf engstem Raum zu erzählen, die nach Beenden der Lektüre zur Interpretation anregt, die eigene Verwerflichkeit unter Beschuss nimmt und letztenlich auch zum Gedankenspiel aufruft. Und mehr kann man sich von diesem Roman auch nicht erwarten, so ehrlich muss sein. Man darf sich dieses kleine aber feine Ding nicht als ausgedehntes, überbordendes Handlungskonstrukt vorstellen, sondern als kurze, prägnante Parabel auf das aus dem Ruder gelaufene Leben. Eine Familiengeschichte der etwas anderen Art.
Fazit:
Bei all dem ganzen langweiligen Mainstreamzeugs, tut es wahnsinnig gut, endlich mal einen Titel zwischen die Finger zu kriegen, der sich von allen anderen im Genre deutlich unterscheidet. DEUTLICH!!! Egal ob es den Stil der Autorin betrifft, die Entwicklung der Charaktere, das Setting, den Aufbau der Handlungsstränge,…Sylvia Wage geht hier einen derart unkonventionellen, straighten Weg, der unterhaltsamer nicht sein könnte und - das muss man so deutlich sagen - den man heutzutage leider kaum mehr zu Gesicht bekommt. Umso erfreulicher ist es da, dass ich mit dieser kurzen Story die reinste Freude hatte. Ach was: Ich feiere dieses Buch abartig!!! Nicht zu vergessen, dass wir es hier mit einem Debüt zu tun haben, was aufgrund der hohen Qualität und der Leichtigkeit des Textes, echt unglaublich ist. Außerdem ist es erstaunlich, wie kühl, distanziert und abgebrüht diese Geschichte erzählt wurde. Ohne den kleinsten Funken Mitgefühl, ohne auf Empathie zu achten, manövriert Wage ihre Figuren durch dieses Horrorszenario. Dafür hat sie sich jede (und sei sie noch so klein) positive Lesermeinung redlich verdient!
Inhaltslangabe:
Ein tiefer Brunnen im Keller des Elternhauses. Ein Brunnen, den die Erzählfigur dieser Geschichte, wie sie behauptet, im Alter von elf Jahren selbst gegraben hat. Ein Brunnen, in den sie als Teenager den Vater hinabstieß und jahrzehntelang gefangen hielt.
Im Plauderton, mit Lakonie und Leichtigkeit wird diese Familiengeschichte erzählt, parallel zu den Geschehnissen im Haus. Vom herrschsüchtigen Vater, vom Trinken der Mutter, den Lebenswegen der Schwestern und dem eigenen. Aber können wir dem Erzählten überhaupt Glauben schenken?
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