Jetzt mal Fakten auf den Tisch: Es gibt - meiner Meinung nach - zwei Sorten True-Crime-Stories: Jene, die dazu da ist, die PR-Geilheit des „Autors“ anzuheizen (Meist sind es nicht mal Autoren, dürfen sich aber nach Release jedenfalls so nennen), den Drang sich mitzuteilen aufleben zu lassen und die eigene Daseinsberechtigung zu stärken. Und dann gibt es jene, die keinen Grund dazu hat, oben genannte Punkte vorzuschieben. Jene, die tatsächlich gerne schreibt, verarbeitet und das Medium lediglich als Kanalisation nutzt.
Nehmt es mir bitte nicht übel, aber dieses krampfhafte Erzählen, diese notgedrungene Vermarktung der eigenen ach so bedauernswerten Geschichte nervt gewaltig.
Den letzten ernstzunehmenden (und nebenbei auch noch unterhaltsamen) Crime-Titel den ich gelesen habe stammt von Michelle McNamara, heißt „Ich ging in die Dunkelheit“ und hat auf ganzer Linie überzeugt. Zu 100%.
Zwischen der Veröffentlichung von McNamaras Buch und „Die roten Stellen“, liegen gerade mal 5 Monate Enthaltsamkeit, doch der Drang nach bester True-Crime Unterhaltung ist ungebremst.
Gott segne Maggie Nelson!!!
Sie hat in dieser höchst emotionalen, auf wahren Begebenheiten basierenden Erzählung eine starke Balance zwischen Fakt und Fiktion gefunden, die mich wahrlich fasziniert hat, vor allem deshalb, weil ich zu keinem Zeitpunkt genau wusste, wie hochprozentig der Wahrheitsgehalt anzusetzen ist?!
Einerseits wirkt das Ganze sehr lebensnah, bodenständig und authentisch, andererseits hat man durch die „dokumentarische“ Herangehensweise sehr häufig das Gefühl, eine distanzierte, frei erfundene Story zu erleben. Die ausgewogene Mischung zwischen Sachbuch und Kriminalroman, zwischen Tatsachenbericht und Einblick in die Gefühlswelten der Protagonisten, gibt der Handlung jedoch eine ganz besondere, einprägsame Struktur, die unverwechselbar ist. Man könnte sagen: Analytisches Kalkül, trifft auf tiefe Anteilnahme.
Ebenso großartig fand ich die beiden Ebenen, die Maggie Nelson bewusst ins Leben gerufen hat und nebeneinander existieren lässt: Da hätten wir den Mordfall, den Prozess, den Modus Operandi per se, den es gilt unter die Lupe zu nehmen. Und wir bekommen einen sehr lebendigen Eindruck davon, was solch grausame Schicksalsschläge einer Familie antun, bzw. wie sehr sie Generationen in Mitleidenschaft ziehen können.
Doch über dem Gefühlschaos der Protagonistin schwebt der Geist einer längst vergangenen Kriminalistik(1969), die präzise Auswertungen, DNA-Spuren, Tests und Täterprofile von heute gut gebrauchen hätte können. Außerdem zerlegt Maggie Nelson die Textur dieses grausamen Verbrechens in ihre Einzelattribute und rückt die essentiellste Grundlage jeder Mordanklage in den Mittelpunkt: Das Motiv!
Auf ein zusammenfassendes Fazit verzichte ich dieses Mal, denn Maggie Nelson hat dafür die passenden Worte parat:
„...eine eigentümliche, empathische Meditation über die Beziehung von Zeit zu Gewalt, zu Trauer, die dankenswerterweise abgetrennt ist von den grellen Rubriken namens „Tagesgeschehen“, „True-Crime“ oder sogar „Memoir“.
Klare Empfehlung!
Inhaltsangabe:
Ein wahrer Fall – Maggie Nelson schreibt über den brutalen Mord an ihrer Tante und den Umgang mit Mord und Trauer in unserer sensationslüsternden Gesellschaft.
Im Frühjahr 1969 sucht Jane Mixer eine Mitfahrgelegenheit, ihre ersten Semesterferien will sie zu Hause in Muskegon, Michigan, verbringen. Dort angekommen ist sie nie: Sie wird brutal ermordet, ihre Leiche am nächsten Tag ein paar Meilen vom Campus entfernt gefunden, mit zwei Kugeln im Kopf und einem Nylonstrumpf um den Hals. Jahrzehntelang gilt der Fall als ungelöst, bis er 2004 erneut aufgenommen wird – durch einen positiven DNA-Abgleich wird ein neuer Verdächtiger identifiziert und vor Gericht gestellt. Mit großer gedanklicher Klarheit nähert sich Maggie Nelson dem mysteriösen Tod ihrer Tante Jane und dem Prozess, der ihn nach 35 Jahren wieder aufrollt – und versucht dabei, das Wesen von Trauer, Gerechtigkeit und Empathie zu ergründen.
Pressestimmen:
"Die Mischung aus True Crime und literarischem Memoir [zeigt], wie genial Maggie Nelson Spannung und Theorie, Wahrheit und Fiktion, Erzählung und Fragment verbinden kann.“ (Xaver von Cranach, ZEIT, 23.01.2020)
"Wenige Autorinnen oder Autoren schaffen es, einen so ins Denken zu bringen, wie Nelson das tut." (Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung, 10.03.2020)
"‚Die roten Stellen‘ ist ein Essay über den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen, realer und fiktionalisierter. […] Maggie Nelson ist eine Erzählerin, und in diesem Buch erzählt sie eine Geschichte – eine schrecklich gute.“ (Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2020)
"Was Maggie Nelson in diesem Memoir tut, ist: den Mord an einer Frau sichtbar machen, von allen möglichen Seiten beleuchten. Oder wie ihre Mutter im Lauf des Prozesses sagt: ‚Wir sind hier, um zu bezeugen.‘ […] So etwa fühlt sich das Lesen an: Wir werden Zeuginnen einer vibrierenden existenziellen Suche, die ausufert, weil Nelson sich nicht festlegen lässt, immer wieder alles infrage stellt. Sie kreist um Themen und Motive und seziert sie mit einer Klarheit, die zuweilen wehtut.“ (Michelle Steinbeck, NZZ am Sonntag, 29.03.2020)
"‚Die roten Stelle‘ ist das Ergebnis einer Konfrontation. Wer Nelson schon einmal gelesen hat – zum Beispiel ‚Die Argonauten‘, in dem sie Theorien der Liebe mit einer queeren Familienkonstellation und ihrer Rolle als werdende Mutter zusammendenkt –, der weiß, dass sich diese exzellente Essayistin nie mit einfachen Antworten begnügt.“ (Dominik Kamalzadeh, Der Standard, 16.04.2020)
"Mit ‚Die roten Stellen‘ wollte Nelson […] Zeugin sein – für das Leben von Jane. Zeugin auch des an ihr begangenen Verbrechens. Zeugin wider das Vergessen. Das gelingt ihr auf eindrückliche, berührende Weise.“ (Carola Ebeling, taz, 09.02.2020)
"‚Die roten Stellen‘ ist die literarische Erkundung eines weiteren Kreises der Hölle, die unser tägliches Leben sein kann. Nelsons Drahtseilakt über dem Abgrund ist schonungslos. Er reißt uns mit in die Tiefe. Aber lieber mit Maggie Nelson in der Hölle schmoren, als im bubble bath der Wohlfühlliteratur ersaufen.“ (Sarah Elsing, DLF Kultur, 29.01.2020)
"‚Die roten Stellen‘ ist ein steter Fluss, ein Strom der Überlegungen und Verbindungen. Deshalb ist dieses beeindruckende, kluge und berührende Buch eine Erzählung über ein Verbrechen und über Nelsons Leben, es ist zugleich True Crime und literarisches Memoir.“ (Sonja Hartl, CulturMag, 01.04.2020)
"Stilistisch bewegt sich Nelson zwischen nüchtern-distanzierter Analyse und leidenschaftlicher Anteilnahme, mit teilweise Hitchcok-artigem Gespür für das Grauen und das Verbrechen.“ (Gérard Otremba, Rolling Stone, 01.02.2020)
"Am Ende hat die Ich-Erzählerin Maggie Nelsons einen harten Gerichtstag über sich selbst gehalten, ohne einem verlässlichen Urteil über das eigene Leben näherzukommen. Und genau in dieser Suchbewegung, in dieser unabschließbaren Einkreisung der Geheimnisse des eigenen Existierens liegt die Wahrheit aller großen Literatur.“
(Michael Braun, SR2, 02.02.2020)
"Maggie Nelson hat Mut, Bildung und Lust am Denken. […] Lesevergnügen und Erkenntnisgewinn sind garantiert.“
(Claudia Fuchs, SWR2, 20.02.2020)
"In seiner Schonungslosigkeit gleicht dieses Buch einem Obduktionsbericht […]. Was zunächst wie eine mittelmäßige Tatort-Folge klingt, macht Nelson zu einer Tiefenbohrung ins Unbewusste ihrer Familie […]. Mit dem Respekt hat Nelson es nicht so. Dafür umso mehr mit der Wahrheit.“ (Dominik Erhard, Philosophie Magazin, 3/2020)
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