Wir schreiben das Jahr 1617.
VARDØ. Finnmark.
Ein brutaler Sturm fegt übers Land, die Gezeiten spielen verrückt, das Meer löst sich aus seiner ruhigen Verankerung, lässt die Nervosität des Wellenganges ansteigen und stürzt die gesamte virile Belegschaft in den (wohlverdienten) Tod.
Der Boden zu hart um die Leichen in der Erde verschwinden zu lassen. Die Töchter väterlos. Die Frauen zwischen Erleichterung und Verzweiflung.
Wer soll den nun den Hausherren spielen? Wer soll die Familie ernähren? Wer soll die geliebte Ehefrau schwängern? Wer soll den Bälgern mithilfe der starken Hand, Respekt und Wertschätzung beibringen? Wer??? Katastrophale Vorstellung, wenn man bedenkt, dass Frauen zu dieser Zeit, zweierlei Abbilder verkörperten: Jene, der treuen, liebenden, umsorgenden (kochen, putzen, waschen, erziehen,...), „arsch hinhaltenden“ Ehefrau, und jene, die am Scheiterhaufen lichterloh brennt. Doch es gibt noch mehr: Frauen, die in die Zwangsheirat verbannt und zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet werden. Väter, die ihre Töchter wie Viecher verhökern. Vergewaltigungen, die zum guten Ton der Herrschaften gehören und dem noch jungfräulichen Mädchen als „Liebesakt“ präsentiert werden.
Da wäre es kaum verwunderlich gewesen, wenn der Ausruf: „Ach du meine Güte, unsere Männer sind für immer fort!“, mit einem hämischen Lächeln und tosendem Applaus quittiert worden wäre.
Doch die Frauen sind gütig, nachgiebig, selbstlos, aufopfernd, gläubig und trauern um ihre gefallenen Gemahle, um all die Stammhalter und potenziellen Misshandlungskünstler, die in den Fluten - zeitig - ihr jähes Ende gefunden haben.
Stets einsichtig, dass die treibendste Kraft des „Schicksals“, der Auslöser für diese Abscheulichkeiten, nicht so einfach manifestiert werden kann, da ohnehin Gott und Teufel für jedwede Schuld/Unschuld verantwortlich sind! Da hilft auch nicht die „Gabe“ der Hellsichtigkeit, oder jene der Traumdeutung, um die Ausgangslage dieses Dramas schlüssig zu erklären.
Willkommen in Norwegen des frühen 15. Jahrhunderts.
Kiran Millwood Hargrave spielt in ihrem literarisch affektierten „Ammenmärchen“ mit dem Gedanken, die männliche Rasse metaphorisch von der Bildfläche zu tilgen, die klar definierten Machtverhältnisse zu tauschen und zu versinnbildlichen, welch erhebliche Taten, das vermeintlich „schwächere“ Geschlecht - im Verbund - fähig ist zu leisten. Gänzlich klischeebefreit. Völlig unbefangen.
Alles gut soweit, wäre da nicht dieser gewisse Absalom Cornet, der potenzielle Hexen-Kandidaten (also jede einzelne Frau, die sich nicht freiwillig vergewaltigen ließ, die nicht zu Fuße kroch, wenn Man(n) es ihr befahl, die keine Loblieder auf den ach so treuen, liebevollen Göttergatten sang,...) zum Frühstück verspeist, und sie auf den Scheiterhaufen wirft, wie ein billiges, verdorbenes Stück Fleisch.
Denn:
„Im Namen des Königs: Jeder Zauberer oder Gläubige, der Gott sowie sein heiliges Wort und das Christentum opfert und einen Bund mit dem Teufel eingeht, soll mit dem Tode bestraft und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.“ (Aus dem Dänisch-Norwegischen Trolddom [Zauberei] Dekret von 1617, 1620 in Finnmark in Kraft getreten.
Neben der Mann-Frau-Thematik, spielt auch Religion hier einen erhebliche Rolle: Sie lenkt die Bürger, dient als Ausrede, wenn Entscheidungen falsch getroffen werden und muss als rettende Zuflucht herhalten, wenn die Hoffnungslosigkeit an die Tür hämmert. Hinzukommt, dass Pastoren einen derart erhöhten Stellenwert in dieser von Männern dominierten Gesellschaft einnehmen, der weder nachvollziehbar, noch langfristig postitiv aufs eigene Gemüt schlägt. Soll heißen: Der streng limitierte Glaube, den leider viel zu viele Menschen besitzen, macht aus dem freidenkenden, friedlebenden Individuum Mensch, einen Sünder, einen Prellbock, einen Schuldigen.
Fazit:
„VARDØ“ ist auf stilistischer, inhaltlicher, wie schriftstellerischer Ebene definitiv - und das darf man in aller Deutlichkeit sagen - EINWANDFREI. Die Autorin hat eine verdammt heiße Story konzipiert, den Plot herausragend in Szene gesetzt, weiß mit den damaligen Gepflogenheiten bestens umzugehen und mixt einen atmosphärischen Cocktail aus Drama und Gesellschaftsportrait, an dessen Ende ein von der Gemeinschaft entworfener Gottglaube steht, der an Sinnlosigkeit kaum zu übertreffen ist. Und so komme ich zu der erleuchtenden Erkenntnis, dass die einstigen Männer von damals, zwar das leiblich „stärkere“ Geschlecht verkörperten, leider aber auch die grenzenlose Dummheit, die Grausamkeit, den Leichtsinn, sowie den ununterbrochenen Machtmissbrauch (auch mehrere hundert Jahre später noch immer ein klares Männerding) für sich entdeckt hatten.
Doch es sind nicht nur Gräueltaten, die am Ende dieser Reise übrig bleiben, sondern - im selben Maße - die Hoffnung auf Besserung, die Chance auf langlebige Geborgenheit durch Gleichgesinnte und das vehemente Pochen auf das Freiheitsrecht, das jedem einzelnen Menschen zusteht.
Kurzum: Ein ganz wunderbar konzipierter Roman, den ich ALLEN ans Herz legen möchte! ❤️
Inhaltsangabe:
Vardø, Norwegen am Weihnachtsabend 1617. Maren sieht einen plötzlichen, heftigen Sturm über dem Meer aufziehen. Vierzig Fischer, darunter ihr Vater und Bruder, zerschellen an den Felsen. Alle Männer der Insel sind ausgelöscht – und die Frauen von Vardø bleiben allein zurück.
Drei Jahre später setzt ein unheilvoller Mann seinen Fuß auf die abgelegene Insel. In Schottland hat Absalom Cornet Hexen verbrannt, jetzt soll er auf Vardø für Ordnung sorgen. Ihn begleitet seine junge norwegische Ehefrau. Ursa findet die Autorität ihres Mannes aufregend und hat zugleich Angst davor. Auf Vardø begegnet sie Maren und erkennt in ihr etwas, das sie noch nie zuvor erlebt hat: eine unabhängige Frau. Doch für Absalom ist Vardø nur eins - eine Insel, die von Gott verlassen wurde und die er von teuflischer Sünde befreien muss.
»"Vardø - Nach dem Sturm" ist der erste Roman für erwachsene Leser*innen von der jungen Ausnahmeautorin Kiran Millwood Hargrave. Auf der Grundlage einer wahren Begebenheit schreibt sie eine intensive Geschichte über einen Überlebenskampf, die mit jeder Seite packender wird und ihre Leser*innen nicht mehr loslässt.«, (www.lovelybooks.de; in “Die besten neuen Hardover-Neuerscheinungen im März”)
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