Vorweg möchte ich gerne eine Sache klarstellen und mit einem ehrlichen Statement in diese Buchbesprechung einsteigen: Ich bin nicht der größte Sarah Perry Fan. Zugegeben: Sie ist überaus talentiert, fabuliert gerne, ist detailverliebt, spielt wirklich gekonnt mit unterschiedlichen Sprachelementen, lässt ab und an Poesie durchscheinen und hat die Gabe, aus dem vordefinierten Plot, ihr ganz eigenes Ding zu machen. ABER: Mir ist die ganze Nummer zu gekünstelt, zu ausschweifend, viel zu affektiert. Der gewünschte Effekt, sich durch ihre spezielle Schreibweise vom Massengeschäft abzukapseln, hat wunderbar gefruchtet, löst in mir aber keine spürbaren Freudenschreie aus. Leider.
Weder der Titel „Die Schlange von Essex“, noch „Nach mir die Flut“ konnten mich mit ihrer Komposition, mit dem Inhalt, mit der Charakterisierung der Figuren und der Atmosphäre überzeugen.
Und dann kam „Melmoth“:
Sarah Perry wartet mit gewohntem Stil, ähnlichem Sound, vielen Metaphern und abermals mit einem überdimensionalen Hang zum Dramatischen auf. Mit dem großen, alles entscheidenden Unterschied, dass sie dieses Mal ohne große Umwege prompt in die Erzählung einsteigt, sich auf die wesentlichen Kernelemente der Story konzentriert, ihren Figuren ein markantes, zugleich empathisches (wenn auch nicht sympathisches, oder gar zugängliches) Geschicht verpasst, den Leser auf emotionaler Ebene beschäftigt, und trotz poetischer Sprachführung, viel für den Unterhaltungswert übrig hat. Denn Sarah Perry bemüht sich stets, ihr Geheimnis um die (wahrhaftig) angsteinflößende „Melmoth“ am Leben zu erhalten, 336 Seiten lang, nimmt den Leser unfreiwillig an der zitternden Hand und führt ihn behutsam, chronologisch durch den unheimlichen, intelligenten Irrgarten dieses Ammenmärchens.
Neben der unterhaltsamen Komponente, vergisst sie keine Sekunde lang auf die Tiefgründigkeit ihrer Erzählung, zeichnet ein überaus düsteres (Sitten-)Bild der Gesellschaft, der menschlichen Neugierde, lässt den Leser mit seinen Gedanken im Dunkeln sitzen, und packt ihn zu guter Letzt an der eigenen Urangst.
Jetzt kommt das große ABER. Um ehrlich zu sein: ‚Melmoth‘ hätte mich mit Sicherheit nicht losgelassen, sie hätte mich wahrscheinlich bis in den verdammten Schlaf verfolgt. Hätte. Hätte. Hätte. Wären da nicht diese vielen trockenen, zähflüssigen Nebenhandlungen, diese höchst entschleunigenden Phasen, die der Haupthandlung um ‚Melmoth‘ den Boden unter den Füßen wegreißen.
Fazit:
Sarah Perry trifft mit dieser furchterregenden Eigenkomposition - in Anlehnung an den 1820 erstveröffentlichten ‚Gothic Horror‘-Roman „Melmoth der Wanderer“ von Charles Robert Maturin, beinahe ins Schwarze. Die anfängliche Skepsis gegenüber Perrys schriftstellerischer Qualität dürfte erstmal erledigt sein, denn Stil und Entertainment, in dieser schwierigen Form miteinander zu kombinieren, ist äußerst lobenswert.
‚Melmoth’ ist „Eine unheimliche, markerschütternde Geschichte und zugleich ein Plädoyer für Wärme und Mitmenschlichkeit.“ (THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW)
Dem kann ich im Grundsatz gerne zustimmen, doch leider verstrickt sich Perry in vielen Nebenarrangements, die der Haupthandlung so gar nicht gefallen.
Klar: Die detailreiche, mit Infos ausgestattete Hommage an das geschichtsträchtige Tschechien ist ihr wahrlich gut gelungen; die unheimlichen Sequenzen sind ebenso vorhanden (wenn auch nur in kleinen Dosen), doch der Haupthandlungsstrang weint bittere Tränen, weil er weiß, dass so viel mehr möglich gewesen wäre.
Inhaltsangabe:
Helen Franklins Leben nimmt eine jähe Wende, als sie in Prag auf ein seltsames Manuskript stößt. Es handelt von Melmoth - einer mysteriösen Frau in Schwarz, der Legende nach dazu verdammt, auf ewig über die Erde zu wandeln. Helen findet immer neue Hinweise auf Melmoth in geheimnisvollen Briefen und Tagebüchern - und sie fühlt sich gleichzeitig verfolgt. Liegt die Antwort, ob es Melmoth wirklich gibt, in Helens eigener Vergangenheit?
Ein Buch, das einen packt und nicht mehr loslässt. Ein weiteres Meisterwerk von Sarah Perry.
Pressestimmen:
„Virtuos, angsteinflößend und intelligent.“
(THE WASHINGTON POST)
„Sarah Perry beweist aufs Neue, dass sie eine Meisterin der Atmosphäre ist.“ (WALL STREET JOURNAL)
„Eine unheimliche, markerschütternde Geschichte und zugleich ein Plädoyer für Wärme und Mitmenschlichkeit.“ (THE NEW YORK TIMES BOOK REVIEW)
„MELMOTH meistert das seltene Kunststück gleichzeitig extrem unterhaltend und tiefgründig zu sein. Eine der großen literarischen Meisterleistungen unseres jungen Jahrhunderts.“ (THE GUARDIAN)
„MELMOTH ist ein pulsierender und kraftvoller Roman über Liebe und Menschlichkeit. Das perfekte Heilmittel gegen die allzu glatte und haltungslose Literatur der letzten Jahre.“ (NPR, Buch des Jahres 2018)
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Thomas Thomsen (Donnerstag, 29 Dezember 2022 17:36)
Wenn ich all die honorigen Absender und ihr Lob lese, weiß ich nicht mehr, auch wenn das Buch eine schöne Sprache hat, sich aber in der Fantasie verliert, was sie schreiben, wenn sie ein gutes Buch zu bewerten haben?