Es gibt unzählige Autoren, die sich bereits darin versucht haben, eine Erzählung ins Leben zu rufen, die dem Wesen der Märchengattung gleichkommt, jedoch bislang kläglich gescheitert sind. Leider verstehen es nur ganz Wenige, diesen mystischen Charme,
dieses konzeptfreie Zusteuern auf die Moral, dieses ständige Tadeln, dieses vernünftige, nachvollziehbare Morden dem Leser transparent und verständlich zu machen.
Eine Sage lebt von ihrer Atmosphäre, von den stupiden Beziehungen der Figuren, den abstrusen Handlungsverläufen und den protzig-demonstrativen Machtverhältnissen. Kein anderes (Sub-)Genre geht derart verschwenderisch mit seinen Weisheiten und Sinnfragen um, wie es beim Märchen der Fall ist.
Betrachten wir das Ganze doch mal etwas nüchtern: Rotkäppchen fällt auf billige Tricks rein und glaubt am Ende sogar, dass die eigene Großmutter Gesichtsbehaarung trägt. Die Mutter von Rapunzel tauscht billiges Gartengemüse gegen ein Neugeborenes. Die sieben Geisslein wehren zweimal - ganz bewusst - den bösen Wolf ab, nur um ihn beim dritten billigen Einbruchsversuch einsteigen zu lassen. Und Dornröschen weiß seit 15 Jahren(!!!), dass der Stich einer Spindel sie töten könnte und was macht sie? Klar, sie fasst die Spindel an.
So gesehen, wirken Märchen tatsächlich etwas brachial, vollkommen fahrlässig, stumpfsinnig. Naja. Dass diese armen Liebenswürdigkeiten dann auch noch zerhackt, gefressen, verstoßen, getäuscht und ermordet werden macht die Sachlage zwar nicht viel besser, aber immerhin gehört das zum guten Ton der Gattung. (So viel Dummheit hat eben nur den Tod verdient!)
All diese so sehr lesenswerten Kompositionen hatte ich verloren geglaubt, doch dann kommt plötzlich - wie aus dem Nichts - diese Unbekannte, diese Peternelle van Arsdale daher, und knallt eine so meisterliche, schnörkellose Einleitung aufs Tablett, die mir kurzzeitige Atemwegsbeschwerden verpasst hat. Und was passiert nun? Nach dem Prolog? Man kann es gar nicht glauben, aber es geht tatsächlich in gleichbleibender Qualität weiter: Feinfühlig, strukturiert, märchenhaft, boshaftig, simpel, aber dennoch magisch liest sich dieses Debüt. Da ist es kaum verwunderlich, dass Amazon Studios diesen Text visualisieren möchte.
In der Konzeption von Märchenadaptionen fallen mir spontan fünf essentielle Punkte ein:
1. Spiele allzeit den Moralapostel!
2. Entwerfe naive Figuren, die du jederzeit töten könntest/würdest!
3. Spiele weiterhin den Moralapostel!
4. Behalte den Zeigefinger oben!
5. Lasse deine Figuren einen Entwicklungsschub durchleben!
„Tief im Wald“ („The Beast is an Animal“ - genialer Originaltitel übrigens) ist nicht bloß eine lieblos heuntergetippte Fabel, sie beherzigt und vereinigt die vielen positiven Charakterzüge des klassischen Märchens und mixt diese mit einer verdammt ansehnlichen, atmosphärischen, unheimlichen und zugleich modernen Erzählung, wie es auch M. Night Shyamalan in „The Village“ getan hat.
So unscheinbar dieser Titel auch anmutet, so fasziniert und aufgewühlt hat er mich dann auch zurückgelassen. Wahrscheinlich ist es der Mythos, das Unaussprechliche, das Verborgene, die zwei verstoßenen Kreaturen, die auf Rache getrimmt durch die finsteren Wälder ziehen, die aus „van Arsdales Geschichte“, eine derat packende, düstere Episode machen.
Meine Faszination lässt sich äußerst schwer verbergen, aufgrundessen kann ich hier nur befürwortend agieren und eine ganz klare Kaufempfehlung aussprechen.
In diesem Sinne: ...und wenn sie nicht gestorben sind, dann sterben sie bestimmt später!
Inhaltsangabe:
Alys ist sieben, als die Seelenesser eines nachts in ihr Dorf kommen. Am Morgen danach sind alle Erwachsenen tot. Alys und die anderen Kinder müssen fortan in einem Nachbardorf leben, wo die Menschen gläubig sind und das Biest fürchten, das tief im Wald lebt. Doch das Biest ist nicht das, was es zu sein scheint – ebenso wenig wie Alys. Das Mädchen spürt, dass es in seinem Inneren mit den Seelenessern verbunden ist. Als Alys älter und ihre geheime Gabe stärker wird, sehnt sie sich immer mehr nach der Freiheit jenseits des Dorfes. Da schlägt das Schicksal erneut zu, und Alys macht sich auf die gefährliche Reise in den dunkelsten Teil des Waldes…
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